Wir bewerten. Fluch oder Segen?
Heute schon gelikt oder Sterne vergeben? Seit dem Einzug von Facebook & Co und Online-Shopping in unseren Alltag treiben wir das Bewertung auf die Spitze. Warum Händler und Dienstleister großes Interesse daran haben, dass wir sie bewerten, dürfte klar sein. Ob die Menschen in meiner Umgebung hingegen amused sind, wenn ich (m)ein Urteil über sie fälle, dürfte fraglich sein. Aus welchem Grund tue ich das eigentlich? Und tut mir das gut? Oder sollte ich mich besser fragen: Wann tut mir das gut?
Wir bewerten aus drei Gründen.
Zum einen, weil unser „Arbeitsspeicher“ unglaublich klein und das Ausmaß an Reizen, denen wir ausgesetzt sind, unfassbar groß ist. Die Wissenschaft geht heute davon, dass wir pro Sekunde bis zu 15.000.000 Bits unbewusst wahrnehmen können, jedoch lediglich 60 Bits bewusst, was einer siebenstelligen Telefonnummer entspricht. Und die muss so schnell, wie möglich, in eine „Schublade“ in unserem Gehirn einsortiert werden, damit ein neuer Reiz verarbeitet werden kann. Auch wenn wir nicht mehr so aussehen wie Steinzeitmenschen, unser Gehirn arbeitet immer noch nach dem Motto: Flucht oder Angriff.
Schnelles Bewerten hat dazumal Leben gerettet. Auch wenn es in unserem Alltag zumeist nicht mehr um Leben und Tod geht, arbeitet unser Gehirn dennoch nach diesem Muster. Während früher die Fähigkeit zur Bewertung genutzt wurde, um zwischen gefährlich und ungefährlich zu unterscheiden, geht es heute eher um gefällt oder gefällt mir nicht.
Zum anderen bewerten Menschen, weil wir als soziale Wesen davon abhängig sind, von „der Gemeinschaft“ akzeptiert zu werden. Worte wie Mobbing, Shitstorm, Ausgrenzung, Integration oder Inklusion sind allgegenwärtig und machen die Thematik deutlich. Auch wenn es heute aufgrund der Wandlung der gesellschaftlichen Werte und Normen in Deutschland möglich ist, ein sehr individuelles Leben zu führen und öffentlich dazu zu stehen, benötigt der Mensch dafür die Akzeptanz „der Gesellschaft“. Bekommt er sie nicht, fällt er aus der Gemeinschaft heraus. In früheren Zeiten bedrohte eine derartige Ausgrenzung Leib und Leben. Während in Deutschland die Bedrohung heutzutage eher auf der psychischen Ebene liegt, werden in vielen Länder der Welt einzelne oder auch Völkergruppen bedroht, vertrieben, ermordet, weil sie nach der Bewertung anderer „nicht gefallen“.
Zu bewerten dient den Menschen demnach auch dazu, sicherzustellen, ob sie sich noch in den Werten und Normen der Gesellschaft bewegen, zu der sie sich zugehörig fühlen. Um zu verhindern, dass sie sich unvermittelt schutzlos außerhalb dieser Gemeinschaft wiederfinden. Denn, wenn auch, wie Morde an ganzen Völkern zeigen, die Gemeinschaft nicht absoluten Schutz garantieren kann, so bietet sie zumindest ein gewisses Maß an Sicherheit und das Gefühl von Zugehörigkeit, ein für Menschen überlebenswichtiger Faktor.
So wichtig, dass Menschen einen Teil ihrer Individualität opfern und sich anpassen, nur um dazuzugehören. So unterwerfen sich gerade Jugendliche Normen der „bestimmenden Masse“, um ihre Zugehörigkeit nicht zu verlieren.
Zu guter Letzt bewerten wir, weil diese Fähigkeit uns hilft, Entscheidungen zu treffen. Indem wir Kriterien aufstellen, Vor- und Nachteile auflisten und entsprechend der Kriterien bewerten, versuchen wir sicherzustellen, dass unsere Entscheidung uns den größtmöglichen Nutzen bringt und möglichen Schaden minimiert.
Es gibt also gute Gründe zu bewerten:
- Die Bewertung schafft Platz im Gehirn,
- sorgt für Zugehörigkeit und Sicherheit
- und hilft, Entscheidungen zu treffen.
Und die andere Seite der Medaille?
Wie alles in der dualen Welt hat auch die Bewertung eine negative Seite. Bewertungen, die ohne „Not“ erfolgen und negative Energie erzeugen, weil sie dazu dienen, andere herabzusetzen und sich selbst zu erhöhen, gehören ebenso dazu, wie übermäßige Bewertungen, wenn also alles und jedes unablässig bewertet wird.
Bewerte gezielt.
Unsere Freiheit liegt darin, ab jetzt Bewertungen ganz gezielt einzusetzen. Wie wir gesehen haben, ist es elementar für unser Leben als Mensch auf Erde ist, zu bewerten. Es wird uns von klein an vorgelebt und beigebracht. Doch in den letzten Jahrzehnten haben die gesellschaftlichen Normen in Deutschland sich derart geändert, dass ein großes Maß an individueller Freiheit möglich ist, ohne aus dem Schutz der Gemeinschaft zu fallen. Schaut man sich Fotos aus den fünfziger oder sechziger Jahren an, so ist der „Herr“ im Anzug mit Mantel und Hut zu sehen, die „Dame“ im Kostüm mit Mantel und Hut. Lange Haare bei Männern waren genauso verpönt, wie Hosen bei Frauen. Und „Jeans“ gingen schon gar nicht. Es herrschte ein ganz klarer gesellschaftlicher Dresscode. Heute kann sich jeder so „stylen“, wie er möchte. Einschränkungen gibt es nur noch im Arbeitsleben. Auch die akzeptierten Formen des Zusammenlebens haben sich verändert. Ohne Trauschein zusammenleben, sich scheiden lassen, alleinerziehend sein, unehelich geboren, gleichgeschlechtliche Beziehungen – alles keine Tabus mehr.
Die Veränderungen der gesellschaftlichen Normen in Deutschland und die damit einhergehende Erhöhung der Toleranz gibt jedem von uns die Möglichkeit und Freiheit, das eigene Bewertungsverhalten unter die Lupe zu nehmen.
Achtung Bumerang!
Wenn jeder nach seiner Facon glücklich werden kann, welchen Sinn macht es dann, wenn ich im Café sitze und die vorbeigehenden Menschen beobachte und bewerte? „Guck dir den an… oder die… was für ein unmöglicher Anzug… die Schuhe passen doch gar nicht zum Kleid… und diese Figur! Von der Frisur gar nicht zu reden.“
Welchen Gewinn erziele ich mit diesem Verhalten? Klar, ich fühle mich besser. Denn ich fühle mich überlegen. Ich bin nicht so, wie der mit dem unmöglichen Anzug oder die mit den furchtbaren Schuhen und dieser Figur. Dank meiner Bewertung „bin ich besser“. Doch wofür ist das wichtig? Und wen interessiert’s? Maximal meine Begleitung, vorausgesetzt, sie ist meiner Meinung. So sagt meine Bewertung mehr über mich aus als über denjenigen oder dasjenige, welchen/welches ich gerade mit „Gefällt mir nicht“ belege.
Zudem habe ich mit meiner Bewertung jede Menge negative Energie in die Welt geschickt, die „dank“ des Resonanzgesetzes wie ein Bumerang zu mir zurückkehren wird, in verstärkter Form.
Freiheit durch Beschreiben.
Wenn ich meine eigene Lebensqualität enorm verbessern möchte, nehme ich Abstand vom „Volkssport“ Bewertung. Ich fange an zu unterscheiden, wann eine Bewertung meinerseits erforderlich ist und wann nicht. Ob der Nachbar um 9 oder um 10 Uhr frühstückt, kann ohne Bewertung bleiben. Wenn ich hingegen sehe, dass er volltrunken ins Auto steigen möchte, wäre eine Bewertung meiner Wahrnehmung und Handlungsimpuls angebracht. Wahrnehmen werde ich übrigen weiterhin. Den Anzug, die Schuhe, die Figur… ob ich „meinen Senf“ dazugebe, also in die Bewertung gehe, oder in der Wahrnehmung bleibt, das kann ich nun für mich entscheiden.
Der erste Schritt weg von der Bewertung hin zur Freiheit, die Gelassenheit und Wohlwollen geben, liegt darin, sich im Beschreiben zu üben. Ich sitze also im Café und sehe einen Mann in einem Anzug, dessen Schnitt vor 20 modisch gewesen ist. Der Stoff ist an manchen Stellen dünn, die Knie sind ausgebeult, die Farbe liegt zwischen grau und braun…
Der Kaffee war übrigens so lecker, dass ich mir einen zweiten bestelle. Und wenn ich diese Wahrnehmung bei der Bestellung an die Bedienung weitergebe, erzeuge ich jede Menge gute Energie, die dann gerne in verstärkter Form zu mir zurückkehren darf.
Wir bewerten. Fluch oder Segen? Oder beides? Das entscheidest Du.
[…] Gemütlichkeit. Ähm, nein, an dieser Stelle nicht. Hier ist die Beschreibung gefragt. Versuch mal zu beschreiben, was du siehst, anstatt zu bewerten. “Ich sehe eine Frau, die einen knielangen, roten Rock mit Falten trägt. Sie trägt braune Stiefel, mit flachem Absatz… usw.” “Das rote Auto vor mir fährt 50 km. Das Verkehrsschild am Straßenrand erlaubt 70 km. Der Fahrer trägt einen Hut.” Macht einen Unterschied, oder?! Deine “Bewertung” wäre deutlich anders ausgefallen. Einen Blogbeitrag dazu findest du hier: “Bewerten. Fluch oder Segen?” […]